75 Jahre Carbidsilos bei Wacker: Ein Wahrzeichen Burghausens feiert Jubiläum
(01.07.2025)
Sie prägen seit 75 Jahren die Silhouette des großen Industriegeländes – Heute Rohstofflager für metallisches Silicium
Burghausen. Sie prägen seit 75 Jahren die Silhouette des WACKER- Werks in Burghausen: die acht Carbidsilos, die bei Föhnwetter imposant vor der Alpenkulisse aus dem Industriegelände emporragen. In den Wirtschaftswunderjahren waren sie lebenswichtig für den Standort – als Garant für eine kontinuierliche Produktion und für weiteres Wachstum.
„Wir bekommen eine Stromsparbüchse“, schrieb WACKER-Chemiker Eduard Enk, Pionier der Reinsilicium-Technologie und Mitgründer der Chemitronic (heute Siltronic), im April 1950 in der Werkzeitung. Anlass für seine Begeisterung war der Plan, Silos für die Speicherung von Carbid zu bauen, um ein drängendes Energieproblem zu lösen.
Doch warum war Carbid so entscheidend, und wie hängt dessen Speicherung mit Stromsparen zusammen? Carbid war deshalb so wichtig, weil sich mit ihm Acetylen erzeugen ließ. Das war wiederum Ausgangsprodukt für die Herstellung von Essigsäure, Aceton, Vinnapas, PVC und noch vieles mehr.
Energie – essenziell damals wie heute
Somit war die Grundsubstanz Carbid das „Herzstück des Werkorganismus“, wie es der damalige Werkleiter Herbert Berg treffend formulierte. Allerdings ein sehr energieintensives Herzstück, dem die jahreszeitlichen Schwankungen der Stromerzeugung durch die Alzwerke enorm zu schaffen machte. Im Frühjahr und Sommer bei Niedrigwasser stand nur wenig Strom zur Verfügung. Wenig Strom bedeutete wenig Carbidherstellung und geringe Produktionsausbeute aller Folgeprodukte im Werk. Stromspeicherung war nicht möglich, wohl aber die Carbidspeicherung. Durch den Bau der riesigen Silos konnte im Frühjahr und Sommer ein ausreichend großer Vorrat für eine kontinuierliche Produktion angelegt werden.
Ein Bauwerk der Rekorde
1950 fiel der Startschuss für den Bau, Lieferfirma war das Werk Gustavsburg der MAN. In Rekordzeit wurden vier Silos auf der Nordseite des damaligen Carbidwerkes hochgezogen. Sieben Meter im Durchmesser und über 50 Meter hoch waren die Kolosse, für die
460 Tonnen Stahl verbaut wurden. Es war das zweite Bauwerk dieser Art in ganz Deutschland. Bei der Fertigung selbst spielte Innovation ebenfalls eine Rolle, da die Silos nach dem neuartigen sogenannten Eilira-Verfahren geschweißt wurden, das bei dieser Gelegenheit getestet und weiterentwickelt wurde. Die Wahl, Stahl zu verbauen, fiel aus sicherheitstechnischen Gründen. Die Silos konnten damit dauerhaft unter Stickstoff als Sicherheitsgas gehalten werden. Zudem war Stahl haltbar und langlebig.
Die Türme hatten es in sich
Die Türme waren clever gebaut – zweireihig angeordnet und mit einer Kontrollstation ausgestattet. In der Mitte war ein Aufzug, der das Carbid nach oben transportierte. Das kleine Häuschen oben auf den Türmen war in drei Stockwerke unterteilt. Im untersten Stockwerk wurde der Rohstoff über Schleusen eingeführt. Dabei wurde die Luft zwischen den einzelnen Carbidteilchen durch Stickstoff verdrängt, um Explosionen zu verhindern. Danach kam das Carbid in große Behälter. Im mittleren Stockwerk wurden die Behälter in die Silos entleert, und im obersten Stockwerk war die Aufzugswinde. Es gab bereits damals eine automatische Kommunikation zwischen den Analysegeräten im Turm und dem Regulierstand in der Produktionsanlage.
Fertigstellung und Erweiterung
Der Bau lief genau nach Plan: Am 5. Juli 1950 war Richtfest, Mitte September gelang die Fertigstellung und die Befüllung des ersten Silorohres. Ende November erschien in der Werkzeitung folgende Meldung: „Die am Silobau beschäftigt gewesenen Belegschaftsmitglieder erhalten in diesen Tagen in Anerkennung ihrer außerordentlich eifrigen und erfolgreichen Tätigkeit eine Prämie ausgezahlt.“ Damit war ein Wahrzeichen geschaffen und die Produktion im Werk Burghausen gesichert. Zumindest vorübergehend. Der zweite Bauabschnitt erfolgte 1953 mit der Erweiterung um vier Silos. Die in Folge insgesamt acht Silos hatten ein Fassungsvermögen von 14.000 Tonnen und deckten damit in etwa den Carbidbedarf für einen Monat.
Von der Carbidproduktion zur Petrochemie
Die Silos dienten rund 18 Jahre lang als „Stromsparbüchse“. 1967 erreichte die Carbid- Produktion mit 103 000 Jahrestonnen einen Höchststand, kurz darauf war diese Ära zu Ende. 51 Jahre lang hatten WACKER-Mitarbeiter in schweißtreibender Knochenarbeit durch Schmelzen von Kohle und Kalk Carbid gewonnen - in Burghausen rund 2,7 Millionen Tonnen in einem halben Jahrhundert. Doch Acetylen wurde bald anderweitig und billiger gewonnen: Die Petrochemie machte es möglich. In der 1968 fertiggestellten benachbarten Raffinerie der damaligen Marathon Oil (heute OMV) konnte sowohl der Grundstoff Ethylen als auch Acetylen petrochemisch erzeugt und quasi „über den Werkzaun“ geliefert werden.
Ende einer Ära oder Erlösung?
Über das Ende der Carbidproduktion stand in der Werkzeitung, dass ab jetzt „die Öfen ausgeraucht haben und die weithin sichtbare Rauch- und Staubfahne dem Wanderer nicht mehr anzeigen wird, wo Burghausen liegt.“ Diese unverblümten Worte zeigen, dass nicht nur die Carbidsilos als weithin sichtbares Wahrzeichen des Industriestandortes galten, sondern auch die negativen Begleiterscheinungen. Es war also mitnichten eine gute alte Zeit, die nun vorbei war. Denn nicht nur für die Arbeiter am Hochofen war die Carbidherstellung belastend, sondern auch für die Bevölkerung und die Umwelt. Die Zeitzeugen, die sich noch erinnern können, nennen das Ende des Carbidzeitalters 1969 rückblickend „eine Erlösung“. Eine Erlösung vom Carbidstaub, der ganzjährig die Dächer in der Burghauser Neustadt puderte, Bäume und Gräser wie Mehltau überzog, in den Augen biss und den Hals reizte.
Altes Wahrzeichen, neue Nutzung
Die Silos blieben WACKER erhalten und eine neue Verwendung war rasch gefunden - als Rohstofflager für metallisches Silicium, auf dem heutzutage ein Gutteil der gesamten Produktion am Standort basiert, darunter die Silicone-Produktpalette und das für die Halbleiter- und Solarindustrie essenzielle Polysilicium. 1995 erfolgte eine Runderneuerung der Türme, um Verwitterung und Rost zu beseitigen. Ein achtköpfiges Team arbeitete sechs Monate daran, die 7000 Quadratmeter-Fläche Metall zu sandstrahlen. Dann leuchteten die alten Hochbunker wieder in neuem Glanz.
Auch wenn die Nutzung und Bedeutung heute eine andere ist, als Wahrzeichen bleiben die Carbidsilos erhalten: Nicht nur bei Föhnwetter als beeindruckende Silhouette vor dem Alpenpanorama. Sondern auch als sichtbares Symbol für markante Meilensteine in der Firmengeschichte ab den Wirtschaftswunderjahren.