60.000 Jobs gefährdet: Gehen dem bayerischen Chemiedreieck in naher Zukunft die Lichter aus?

(07.07.2022)

Debatte von Industrie und Politik am Campus Burghausen zur Zukunftsfähigkeit von ChemDelta Bavaria – Energieintensive chemische Industrie sieht Wettbewerbsfähigkeit extrem gefährdet

Burghausen. Gerade hinsichtlich der Rahmenbedingungen durch die aktuelle Energiekrise sind kurzfristig enorme Anstrengungen notwendig, damit das bayerische Chemiedreieck – das ChemDelta Bavaria –  als Standort wettbewerbsfähig bleibt. Würde es so weiter gehen wie bisher, wären spätestens in einigen Jahren bis zu 60.000 Arbeitsplätze in Gefahr. Langfristig aber könnten neue Technologien wie Wasserstoff große Chancen bieten: So lässt sich eine Diskussionsrunde am Campus Burghausen der Hochschule Rosenheim zusammenfassen, bei der Vertreter der Industrie, der TH Rosenheim und der Stadt Burghausen miteinander diskutierten.

Wie kann die Zukunft der Unternehmen im Südostbayerischen Chemiedreieck angesichts der Umwälzungen durch die Energiewende dauerhaft gesichert werden? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Veranstaltung aus der Reihe „Unternehmen und Hochschule“, die am Campus Burghausen stattfand. Eingeladen hatten die TH Rosenheim, die Wirtschaftsvereinigung Seeoner Kreis und die Initiative ChemDelta Bavaria. An klaren Aussagen wurde nicht gespart. Die Veranstaltung am Dienstag, 5. Juli, weise eine enorme Brisanz auf, mit der so nicht zu rechnen war, wie Co-Veranstalter Gerald Rhein vom „Seeoner Kreis“ meinte. Gemeinsam mit der Wirtschaftsförderung Burghausen hatte man bereits vor Monaten diesmal den Campus in der Salzachstadt als Veranstaltungsort ausgesucht. Gerade die aktuellen Entwicklungen im Zuge des Ukrainekriegs und der sich damit abzeichnenden Energiekrise würden inbesonders die energieintensive chemische Industrie durch die weltweiten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unter Druck geraten lassen.

Nachrichtensprecherin Anuschka Horn vom Bayerischen Rundfunk moderierte die Veranstaltung und zeichnete ein düsteres Bild: „Wenn jetzt nicht reagiert wird, könnten im Chemiedreieck in zehn Jahren die Lichter ausgehen, 60.000 direkte und indirekte Jobs in der Chemieindustrie und den damit verbundenen Dienstleistungs- und Handwerksbetrieben würden auf der Kippe stehen. „Wir stehen jetzt an der Kreuzung, an der wir abbiegen müssen“, so Burghausens Bürgermeister Florian Schneider (SPD). Er machte deutlich, dass ein Abschwung der Chemieindustrie auch weniger Steueraufkommen für die Stadt und die gesamte Region 18 bedeuten würde. Sorgen, dass dann Burghausen kommunale Pflichtaufgaben nicht mehr erfüllen könnte, hatte der Bürgermeister zwar nicht – fraglich sei aber, „ob man sich weiter Dinge on Top leisten“ könne, wie ein Technikum für den Campus Burghausen der TH Rosenheim. Dieses würde die Stadt Burghausen finanzieren, obwohl die Hochschulausstattung eigentlich eine Aufgabe des Freistaats sei – so Schneiders indirekte Kritik an der bayerischen Staatsregierung.

Schlechtes Zeugnis für die Politik auf Bundes- und Landesebene
Überhaupt stellten die Diskussionsteilnehmer der „großen“ Politik ein schlechtes Zeugnis aus. Peter von Zumbusch, Standortleiter des Werkes Burghausen der Wacker Chemie (ca. 8.000 Arbeitsplätze), unterstellte der Bundesregierung ein zu großes Zaudern, was echte Visionen angeht – etwa in Sachen klimaneutrale Industrie. Dabei würden viele technische Lösungen bereits auf dem Tisch liegen, wie von Zumbusch in einer Präsentation zeigte. Doch die nötige Infrastruktur – wie neue Pipelines, um Wasserstoff ins Chemiedreieck zu transportieren und der Bau neuer Stromtrassen für den Transport von Wind-Energie nach Süddeutschland – ließe weiter auf sich warten. „Wir müssen und können in eine CO2-neutrale Zukunft gehen“, betonte von Zumbusch. Das Chemiedreieck sei zur notwendigen Transformation bereit und habe das Ziel, bis Mitte der 40er-Jahre die Klimaneutralität zu erreichen. Dafür gebe es allerdings klare Voraussetzungen: „CO2-neutraler Strom muss einen international wettbewerbsfähigen Preis haben, die erneuerbaren Energien müssen dafür massiv ausgebaut werden und wir brauchen eine deutliche bessere Strom- und künftig auch Wasserstoffinfrastruktur. Zudem muss die Freisetzung von Kohlendioxid global teuer und dessen industrielle Nutzung lohnend sein. Darüber hinaus sind unbürokratische Förderinstrumente wichtig“, sagte Zumbusch.

„Wir müssen handeln, nicht reden“, brachte es der Geschäftsführer der Campus Burghausen GmbH und Geschäftsführer der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Burghausen mbH, Anton Steinberger, auf den Punkt. Für die Verzögerungen bei den Stromtrassen äußerte Anton Steinberger seinen Verdacht: „Wir haben in Bayern einen Wirtschaftsminister, der bekanntermaßen viel Rücksicht auf die Landwirtschaft nimmt“, nahm der Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Burghausen vor allem Hubert Aiwanger in die Pflicht. Technisch seien alle Voraussetzungen für das große Ziel der Klimaneutralität gegeben, sagte Bernhard Langhammer, Sprecher des ChemDelta Bavaria – nur die Umsetzungsgeschwindigkeit bereite auch ihm große Sorge.  „Schauen Sie sich an, wie lange uns schon der Ausbau der Bahnstrecke München-Mühldorf-Freilassing beschäftigt. Wir haben noch gut 20 Jahre bis zur angestrebten Klimaneutralität im Chemiedreieck. Da muss ein ganz anderes Tempo her“, verdeutlichte Langhammer. Ein wesentliches Problem sei, dass sich Genehmigungsverfahren so lange hinzögen, nicht zuletzt weil dem Staat hochqualifizierte Leute fehlen würden. „Die braucht es dafür dringend. In der Champions League pfeifen auch keine Schiedsrichter aus der Bayernliga.“

Konkret wurde die Kritik mit Blick auf den zukunftsweisenden Energieträger Wasserstoff. „Der ist in Bayern bislang politisch eher vernachlässigt worden“, konstatierte Stefan Hölbfer, Geschäftsführer von OMV Deutschland. Für die erforderlichen Investitionen in den Ausbau der Versorgungsinfrastruktur brauchen die Unternehmen seinen Worten nach Planungssicherheit durch politische Rahmenbedingungen. Nur so lasse sich das sprichwörtliche Henne-Ei-Problem bei der industriellen Nutzung von Wasserstoff lösen. Hier seien der Freistaat Bayern, die Bundesregierung und die EU gleichermaßen gefordert. Hölbfer informierte, dass OMV Deutschland derzeit in einem Pilotprojekt daran arbeite, „grünes Kerosin“ herzustellen, das kein CO2 mehr freisetze. Doch die Herstellung sei derart energieintensiv, dass man fünf bis acht Isar 2-Kernkraftwerke benötigen würde, um genügend grünes Kerosin für den Münchner Flughafen zu liefern. Auch Langhammer propagierte einen raschen Wandel hin zu einer Wasserstoff-Energiewirtschaft nach einem europäischen Gesamtkonzept. 

Reallabor Burghausen: "Fühlen uns von der Politik absolut im Stich gelassen"
Vor diesem Hintergrund äußerten mehrere Diskussionsteilnehmer ihr Bedauern darüber, dass sich der Start des neuen Reallabors Burghausen so lange hinziehe. Damit sollen neue Technologien entwickelt und in der industriellen Anwendung erprobt werden, um Wasserstoff als Energieträger in der chemischen Industrie, aber auch auf breiter Basis in Logistik und weiterer Wirtschaft zu nutzen. Dafür wurde von der gemeinnützigen GmbH „Reallabor Burghausen – ChemDelta Bavaria“ gemeinsam mit den projektbeteiligten Industriepartnern, der TH Rosenheim und der TU München ein zukunftsweisendes wissenschaftliches Forschungsprogramm entwickelt, in dessen Zuge auch ein Zentrum für angewandte Wasserstoffforschung am Campus Burghausen entstehen soll. „Wir stehen bereit und haben Ende vergangenen Jahres die Förderanträge eingereicht, doch seither ist nichts passiert“, sagte Steinberger. Seine Enttäuschung verbarg auch Bürgermeister Schneider nicht angesichts der Hängepartie: „Wir fühlen uns von der Politik absolut im Stich gelassen!“

„Wir stehen an der entscheidenden Weggabelung und müssen es jetzt richtig machen. Die Krise auf dem Energiemarkt muss uns noch mehr antreiben“, sagte Steinberger. Prof. Heinrich Köster, Präsident der TH Rosenheim, blickte durchaus optimistisch in die Zukunft. „Ich sehe großes Potenzial bei unseren jungen Leuten. Wir als Hochschule werden alles dafür tun, sie in unseren Studiengängen mit dem nötigen Know-how auszustatten, um den Umbau der Energiewirtschaft gelingen zu lassen und nachhaltigen Wohlstand zu sichern.“ Der neue englischsprachige Masterstudiengang Hydrogen Technology am Campus Burghausen, der im Oktober startet und durch eine eigens geschaffene Forschungsprofessur verstärkt wird, leiste dazu einen weiteren Beitrag.

Manfred Weber zu AKW-Debatte: „Ideologiefrei diskutieren“
Für die aktuell heiß diskutierte Frage, ob die drei verbliebenen Atomkernkraftwerke in Deutschland weiterlaufen sollten, lieferte Manfred Weber, Chef der europäischen Volksparteien, eine Einschätzung aus erster Hand. Der CSU-Politiker war vormittags noch von Moderatorin Anouschka Horn in Straßburg interviewt worden. Sein Statement wurde am Campus zugeschaltet, wobei Weber für eine „ideologiefreie Debatte“ warb: „Es leuchtet mir nicht ein, warum man konkret darüber nachdenkt, bereits stillgelegte Kohlekraftwerke wieder hochzufahren, um den Winter zu übertauchen, die noch bestehenden drei Atomkraftwerke aber nicht mehr nutzen will. Ich hoffe da auf Vernunft bei der Bundesregierung!“

Von: http://www.burghausen.com

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Auf dem Podium: (v. li.) ChemDelta-Sprecher Bernhard Langhammer, Wacker-Werkleiter Peter von Zumbusch, OMV Deutschland-Chef Stefan Hölbfer, Moderatorin Anuschka Horn, Wirtschaftsförderungs-Geschäftsführer Anton Steinberger, TH-Rosenheim-Präsident Heinrich Köster und Burghausens Bürgermeister Florian Schneider. (Fotos: KommExpert)

Wacker-Werkleiter Peter von Zumbusch verdeutlichte mit eindrucksvollen Zahlen die Bedeutung des Bayerischen Chemiedreiecks für die Wirtschaft in der Region 18 und in ganz Bayern sowie den jährlich benötigten Strombedarf der ChemDelta-Unternehmen in Höhe von gut 5 Terrawatt-Stunden.

Im Audimax des Campus Burghausen wurde den Besuchern die Brisanz des Themas "Zukunftsfähigkeit der Unternehmen in der Region 18 am Beispiel ChemDelta Bavaria" deutlich gemacht.